Wahrnehmung
Milliarden und Billionen waren bislang Begriffe, mit denen der einfache Sparbuchinhaber nichts anfangen konnte. Und nun das. Im Zusammenhang mit der Finanzkrise müssen wir uns mit so vielen Nullen in der Bankenwelt auseinandersetzen, dass einem darob ganz schwindlig wird. Die Folgen für jene Banker, denen wir die Schlagzeilen der letzten Wochen zu verdanken haben, sind unmenschlich. Volkeszorn und Politik wollen die Gehälter auf ein paar lumpige Millionen pro Jahr beschränken. Zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. Auch die Banker wissen nur zu gut, wie man an der Börse zu einem kleinen Vermögen kommt. Indem man ein grosses mitbringt. Apropos Lumpen: Ein unbekannter Autor hat im 18. Jahrhundert in England die Weltwirtschaft in Gedichtform erklärt: «Lumpen ergeben Papier / Papier ergibt Geld / Geld ergibt Banken / Banken ergeben Darlehen / Darlehen ergeben Schuldner / Schuldner ergeben Bettler / Bettler ergeben Lumpen / Lumpen ergeben…» Man könnte den Kreislauf nur stoppen, wenn wir die Lumpen auch als Lumpen bezeichnen dürften. Weil niemand mehr den Durchblick hat, gibt es kaum Hoffnung auf Transparenz. Jeder ist von jedem abhängig und kaum einer ist bereit zum Verzicht. So lange es möglich ist, dass in unserem Land politische Parteien je nach Stimmverhalten mehr oder weniger Beiträge von Banken erhalten, ist etwas faul im Staate. Ach, wie gut, dass jeder weiss, dass ich Korrumpelstilzchen heiss. Auch dieses System beruht auf dem Glauben oder der Erfahrung, dass man mit Geld die gewünschten Abhängigkeiten schaffen kann. Ändern lässt sich das nicht, einfacher wäre es, Pudding an die Wand zu nageln. Können wir denn überhaupt noch der eigenen Wahrnehmung trauen? Ist diese nicht schon so mangelhaft, dass wir die Dinge sehen, wie sie sind, statt wie sie sein sollten? Die Österreicher haben es da schon einfacher. Sie nehmen die Dinge so, wie sie sein sollten und nicht, wie sie sind. Oder hat man irgendwo die Schlagzeilen gelesen: «Nach Besuch im Schwulenlokal rast besoffener Rechtspopulist in den Tod?» Selbstverständlich nicht. Dass der «Landeshauptmann der Herzen» sein Land Kärnten mit einer beispiellosen Schuldenwirtschaft an den Schwanz führte, dem Ansehen des Landes in der Welt schadete und wohl aus Feigheit sein Doppelleben verschwieg, war nur durch das Mitwirken der Medien möglich. Deren selektive Wahrnehmung hat geholfen, das Saubermann- Image hochzuhalten. Wenn Marcel Reich-Ranicki den Blödsinn und Dreck im Fernsehen kritisiert, dann mag das ja aus seiner Sicht begründet sein. Wenngleich auch er selbst mit seinem literarischen Quartett die Buchkritik trivialisiert hat und zu einer Einmann-Show verkommen liess («Die meisten Schriftsteller verstehen von der Literatur nicht mehr als die Vögel von der Ornithologie»). Der Unterschied zu Dieter Bohlens Sprüchen in der Castingshow ist da nicht allzu gross («Also, wenn Du bei mir im Keller singen würdest, würden die Kartoffeln freiwillig geschält nach oben kommen»). Auch ein Fall nicht objektiver Wahrnehmung. Es ist so eine Sache mit dieser Wahrnehmung, dass selbst bedeutende Menschen der Weltgeschichte sich nicht einig waren. Seneca meinte: «Was die Wahrnehmung zeigt, das glaubt das Herz.» Einen anderen Weg findet die Wahrnehmung bei Thomas von Aquin: «Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in der Wahrnehmung wäre.» Was stimmt nun? Beides kann wohl kaum möglich sein. Das würde ja bedeuten, dass Verstand und Herz zur gleichen Erkenntnis kämen. Für die Banker, die ihre Boni zurückerstatten, gab es letztlich nur eine Möglichkeit. Schliesslich können sie nur von dem geben, was sie wirklich besitzen. Und das ist nun einmal Geld.
Stefan Bühler