Irrläufer
Es irrt der Mensch, so lang er strebt. An dieses Goethe-Zitat werden wir fast täglich erinnert. Hängt wohl damit zusammen, dass uns die politischen Irrläufer kaum einen Tag in Ruhe lassen. Wäre irren wirklich menschlich, wie das Cicero mit seinem «errare humanum est» sagte, dann bekommt die schweizerische SVP-Spitze aus Zürich ungewollt menschliche Züge. So viele Irrtümer auf einem Haufen hat man noch selten gesehen. Oder ist Irren gar nicht menschlich, viel eher männlich? Dafür müsste man ein gewisses Verständnis haben, zumal dann, wenn man wieder einmal das Sechseläuten in der SVPHochburg Zürich gesehen hat. Die wackligsten und zerbrechlichsten Zünfter setzt man auf ein Ross, das von zwei Fussgängern an der Leine geführt wird wie auf der Chilbi kleine Kinder. Dieser Auftritt der höheren Lächerlichkeit erfolgt zwar anonym, die Namen der meist altersschwachen Reiter erscheinen aber mit hoher Wahrscheinlichkeit schon bald einmal in speziellen schwarz gerahmten Anzeigen in der NZZ. In Zürich tun die Frauen das, was die SVP von ihnen erwartet: Sie säumen untertänig die Strassen und ehren die Männer mit Blumen. Die urbanen Schickimicki-Weiber verteilen und verweigern auch gezielt ihre Küsschen, gehaucht zumeist aus plustrigen Botox-Lippen. Das ist dann «Political correctness», weibliche Scharfschützen mit anderen Mitteln. Das Ganze bestätigt die These, wonach Herr von herrlich kommt und Dame von dämlich. Die Liste der populären Irrtümer – von der SVP Zürich bis zum Sechseläuten – kann beliebig verlängert werden. In der Regel irrt der, der andere zum Abschuss freigibt. Dem Bären JJ3 nützt diese Erkenntnis nichts mehr, dafür kommt sie zu spät. Zu früh dagegen kommt sie den SVPScharfmachern. So lange diese Wahlen gewinnen, bleiben sie erkenntnisresistent. Eine besondere Variante wählte die Schweizer Fussball-Nationalmannschaft. Sie hat sich in den Testspielen vor der Euro selbst zum Abschuss freigegeben. Anders der Verband, der schiesst Trainer Köbi mit der Bekanntgabe seines Nachfolgers auf direktem Weg ab. Immerhin haben wir so die Geburtsstunde einer «lame duck» live miterlebt. Bevor diese Euro hoffentlich bald einmal die Schlagzeilen beherrscht, haben wir keine Fluchtmöglichkeiten. Wenn es nämlich nichts mehr zu sagen gibt, dann schlägt die Stunde der Leserbriefschreiber. Es kümmert die Hobbyanalysten kaum, dass die Welt neben dem SVP-Knatsch noch andere Nebensächlichkeiten kennt. Da wären nämlich noch Jean Zieglers Nahrungsmittelbioethanolskandal, oder die Geschichten rund um die frei handelbaren Organe einer Carla Bruni (Spender Sarkozy) oder einer Carla del Ponte (Spender Serben und Roma), man könnte sich auch an der Finanzmisere verospeln oder die neue olympische Disziplin, den tibetischen Triathlon (eine Kombination von Fackelzug, Spiessrutenlauf und Schiessen) in Frage stellen. Die Welt könnte sich magari gar auf die schlimmste aller Herausforderungen mental einstellen, nämlich das Eröffnungsspiel gegen Tschechien am 7. Juni in Basel. Aber nein, nichts von alledem. Die Schlagzeilen werden von einer Bundesratswahl dominiert, die letztes Jahr stattfand. Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin – dann kommt der Krieg zu euch! Wieder einmal wird Berthold Brecht bestätigt. Der Krieg ist nämlich schon da, in Form des organisierten Erbrechens durch Kommentare und Leserbriefe. Betroffene tun in solchen Situationen gut daran, sich an Heinrich Böll zu halten: «Schweigen ist ein Argument, das kaum zu widerlegen ist.» Überzeugt von der Wahrheit? «Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen», meinte Friedrich Nietzsche. Wie wahr.
Stefan Bühler